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Gastautor MMag. Stefan Reichel über die Kunst, in der Führungsposition die Unternehmenskultur konstruktiv zu gestalten.
FÜHRUNG ALS EXISTENZIELLE HERAUSFORDERUNG
Führung ist hinsichtlich der übernommenen Verantwortung eines der herausforderndsten Dinge menschlichen Zusammenlebens. Das erlebe ich jeden Tag in meiner Begleitung und Ausbildung von Führungskräften. Die beruflichen Challenges hängen nicht nur mit den ständigen Veränderungen der Anforderungen, sondern auch mit der unglaublichen Fülle von Faktoren zusammen, von denen die Leitungsposition und ihre Tätigkeiten beeinflusst werden. Und es fehlt darüber hinaus eine allgemeingültige, alles umfassende Definition von Führung, die bei der Aneignung von Führungsqualitäten helfen könnte.
EXISTENZIELLE FÜHRUNG: NACH DEN GRUNDLAGEN FRAGEN
Ein Ansatz, der Führungskräfte in ihren beruflichen Herausforderungen unterstützen soll, ist die Optimierung des Führungsstils bzw. der Führungsstrategie. In den letzten Jahren sind dazu viele gute Modelle und Forschungsergebnisse veröffentlicht worden, mit dem Ziel, die komplexe Wirklichkeit von Führung möglichst umfassend abzubilden und konkretes Handwerkszeug für die Praxis mitzugeben. Der Versuch einer Zusammenfassung dieser Ergebnisse findet sich in den sogenannten „integrativen“ Führungstheorien wieder, die allerdings stark verhaltensorientiert aufgebaut sind. Der Ansatz der „existenziellen Führung“ ergänzt diese integrativen Ansätze um die Frage nach den menschlichen und vor allem zwischenmenschlichen Grundlagen. Hier eine Auswahl der wichtigsten Inhalte zur Reflexion:
1. Der Mensch zwischen Überleben und Entfaltung
Die beiden Grundmotivationen des Menschen sind die Erhaltung des Lebens und dessen Weiterentwicklung. Im Idealfall werden die Prinzipien zur Erreichung dieser beiden Ziele dann auch zugunsten anderer Menschen bzw. der Umwelt angewendet. Unter dem Einfluss von Stress, wie er im populären Begriff der „VUCA-Welt“ beschrieben wird, entscheiden wir uns intuitiv eher für das eigene Überleben. Die moderne Arbeitswelt fordert jedoch für die Problemlösungen nicht diesen adrenalinreichen Überlebensmodus, sondern vielmehr die kreative Entfaltung der vorhandenen Lösungspotenziale. Eine der zentralen Aufgaben von Führung ist es deshalb, im Unternehmen eine Arbeitssituation zu schaffen, in der Stress reduziert und persönliche Entwicklung möglich wird. Der erste Schritt dorthin kann gelingen, wenn die Führungskraft ein reifes „Leidensmanagement“ verinnerlicht hat: Das meint, mit stressverursachenden Themen (z.B. geringes Selbstwertgefühl, Einsamkeit, Kontrollverlust etc.) souverän umzugehen und die eigene existenzielle Hilflosigkeit nicht auf die Mitarbeitenden abzuwälzen.
2. Der Mensch zwischen Kontext und Kontinuum
Die Schnelligkeit, mit der wir oft andere bewerten, zeigt, wie sehr wir von unseren Erfahrungen und Zukunftserwartungen geprägt sind. Diese Musterbildung hat einerseits den Vorteil, dass wir in neuen Situationen rasch handeln können, verhindert aber oft eine Reaktion, die unserem Gegenüber entspricht. Das Trend-Mindset der Achtsamkeit greift diesen Bedarf nach bewertungsfreier Präsenz auf. Für die existenzielle Führung heißt es, beide Pole (den aktuellen Kontext und das laufende Kontinuum) ernst zu nehmen und sich u.a. folgende Fragen zu stellen: Welche Erfahrungen haben mich und meine Mitarbeitenden wesentlich geprägt und welche Prägungen brauchen jetzt eine Veränderung? Welche Haltungen haben mich in die Führungsposition gebracht und welche sind jetzt tatsächlich angebracht? Wie verorte ich meine aktuelle Position in einem gesamten Lebenspanorama und wie verorten meine Mitarbeitenden die ihrige?
3. Der Mensch zwischen Dialektik und Dialogik
Einfach ausgedrückt meint Dialektik, dass ich verschiedene Standpunkte als widersprechend wahrnehme und dann versuche, einen davon durchzusetzen oder im Idealfall eine Synthese, d.h. einen Kompromiss zu finden. Als Führungskraft unter Stress pragmatische Lösungen zu generieren, wird in den meisten Fällen so funktionieren und ermöglicht Handlungsfähigkeit. Für eine nachhaltige und menschenwürdige Unternehmensentwicklung braucht es darüber hinaus aber eine andere Logik: einen fortlaufenden Dialog zwischen den verschiedenen Standpunkten. Das beginnt im Kopf der Führungskraft (s. die Methode des „Inneren Teams“) und endet bei der echten Involvierung der Mitarbeitenden in die Entscheidungen. Letztlich besteht die eigentliche existenzielle Sprengkraft des Dialogs darin, dass gerade die unbequemen, kritischen und scheinbar unpassenden Positionen das kreative oder sogar heilsame Potenzial einer Organisation darstellen.
4. Der Mensch zwischen Subjekthaftigkeit und Funktion
Ein vierter Spannungsbogen, dem wir im Rahmen der Führungsverantwortung begegnen, ist jener zwischen dem Umgang untereinander im Sinne von Rollen bzw. Aufgabenzuteilungen und im Sinne von Personen. Jeder versteht, dass in bestimmten Situationen ein reibungsloser Ablauf innerhalb einer Befehlskette notwendig ist. Die existenzielle Perspektive auf diese Art von Zusammenarbeit versucht nun nicht nur, hier die Frage nach dem Sinn oder dem „Purpose“ als Motivationsfaktor einzuführen, sondern tiefer nach den Bedürfnissen aller Beteiligten zu fragen. Denn wenn wir es mit Subjekten zu tun haben, dann geht es bei aller „wertorientierten“ Führung im Kern um die Anliegen jedes/-r Einzelnen. Zwar wird die Befriedigung der Bedürfnisse natürlicherweise begrenzt durch die Funktionen in einer Organisation, aber ohne die Erfahrung, als Person auf Augenhöhe wahr- und ernst genommen zu werden, sinkt unmittelbar die Leistungsmotivation.
EXISTENZIELLE KOMMUNIKATIONSKULTUR ALS UNTERNEHMENSGRUNDLAGE
All diese Überlegungen (u.v.m.) fließen in die Bemühung um existenzielle Kommunikation ein:
¦ Was bewegt dich und was bewegt mich?
¦ Was ist jetzt und hier von Bedeutung?
¦ Was bedeutet dir dieses Thema und was bedeutet es mir?
¦ Wie kann ich dich in deiner Position verstehen und wertschätzen – und mich verständlich machen?
Als Führungskraft trage ich dafür Verantwortung, dass die täglichen Gespräche zum Wesentlichen kommen und tragfähige, sinnstiftende Lösungen für alle Beteiligten gefunden werden. Die eingeübte Haltung des wechselseitigen Interesses an der Person des anderen ermöglicht eine Kommunikationskultur im Unternehmen, die im Grunde einer Revolution gleichkommt: Alle Beteiligten fördern sich gegenseitig – über alle Positionen hinweg – immer besser in der Erfüllung ihrer Aufgaben. Ist das einmal gelungen, dann sind die Definition und Qualifikation von Führung plötzlich sehr einfach.
Gastautor MMag. Stefan Reichel ist Bereichsleiter für Einzel- und Teamcoaching in der Gruppe Hollenstein.
Bildcredit: © jacoblund/istock